Cover
Titel
The Economic Integration of Europe.


Autor(en)
Pomfret, Richard
Erschienen
Cambridge, Massachusetts 2021: Harvard University Press
Anzahl Seiten
255 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Henrich-Franke, Plurale Ökonomik/Wirtschaftsgeschichte, Universität Siegen

Das hier zu besprechende Buch „The Economic Integration of Europe“ ist kein genuin geschichtswissenschaftliches Werk zur Europäischen (Wirtschafts-)Integration. Vielmehr möchte sein Autor, Richard Pomfret, die Perspektive eines Ökonomen auf die Integration präsentieren und dem Leser helfen, die Europäische Union im Jahr 2021 zu verstehen, wie sie ist. Pomfret verfolgt dabei aber einen Ansatz, der explizit historisch ausgerichtet ist. Historikerinnen und Historiker stimmen dem Autor mit Blick auf die Europäische (Wirtschafts-) Integration sicherlich auch sofort darin zu, dass „an understanding is impossible without analysis of the historical evolution and understanding of economic forces“ (S. vii). Es geht in dem Buch aber um mehr als ein reines „Verstehen“ der Europäischen Integration. Es geht darum, ihren Nutzen und ihre Kosten mit Blick auf einzelne Integrationsschritte zu vermessen und damit zusammenhängende kontroverse Diskussionen – auch methodischer Art – zu erörtern. Wer sind die Verlierer einzelner Integrationsschritte und wer die Gewinner? Wie kam es dazu, dass es erfolgreiche und weniger erfolgreiche Integrationsprojekte gab? Letztlich geht es um das Hier und Jetzt. Wo steht die EU konkret und wie sieht ihre Zukunft aus?

Der Aufbau des Bandes ist im Wesentlichen chronologisch, wobei vier Entwicklungsphasen unterschieden werden, die sich an Schritten zur Vertiefung und/oder Erweiterung der Gemeinschaft orientieren. Nach einem ersten Teil, der auf 25 Seiten einen Überblick über die Geschichte der Europäischen Integration, ihre zentralen Daten und Ereignisse bietet, werden zunächst die Zollunion (1957–1982: Setting European Integration in Motion), danach die Vertiefungsphase rund um die Einheitliche Europäische Akte und den Maastrichter Vertrag (1982–1993: Creation of the European Union), gefolgt von der Erweiterung und Vertiefung nach dem Ende des Kalten Kriegs (1993–2007: From Maastricht to Lisbon) und schließlich die Herausforderungen seit dem Lissabonner Vertrag (2007–2019: Post-Lisbon Challenge and Responses) behandelt. Ein abschließendes sechstes Kapitel widmet sich der Europäischen Union in den 2020er-Jahren.

Mit Ausnahme des Überblicks wird am Ende jedes Kapitels in einem Appendix versucht, die Kosten und Nutzen des jeweiligen Integrationsschrittes zu ermitteln. Dass es sich dabei um einen Versuch mit all seinen Problemen handelt, thematisiert der Autor offen und gibt einen Einblick in die mitunter komplizierten ökonomischen Rechenmodelle sowie ihre jeweiligen (auch methodischen) Schwachstellen. Pomfret sensibilisiert den Leser dafür, dass bei derartigen Berechnungen vieles eben doch eine kontrafaktische Schätzung bleibt, weil alternative Entwicklungen und Zusammenhänge niemals tatsächlich eintraten. Dass die Aussagekraft derartiger Berechnungen begrenzt ist, spricht der Autor zwar an und legt die Stärken wie Schwächen der Kosten- und Nutzenberechnung der Integration auch für den wirtschaftswissenschaftlichen Laien nachvollziehbar dar. Auf der Grundlage dieser Rechenmodelle kommt er dann aber dennoch zu dem Ergebnis, dass sich die Europäische Wirtschaftsintegration für alle Beteiligten auch jenseits nicht-wirtschaftlicher Gewinne als wirtschaftliches Wachstumsmodell erwiesen hat.

Man merkt es den Ausführungen des Autors durchweg an, dass er sich bemüht hat, einen Text zu schreiben, der sich nicht explizit an modellhaft argumentierende und denkende Ökonomen richtet. Für den Rezensenten jedenfalls las sich die Trennung der einzelnen Kapitel in einen eher deskriptiven und einen kürzeren analytischen äußerst gewinnbringend, was auch daran liegt, dass das Buch in beiden Elementen für den Leser sehr informativ und zugänglich geschrieben ist. Seine Stärke liegt in der Darstellung und analytischen Durchdringung der letzten beiden Jahrzehnte Europäischer (Wirtschafts-)Integration. Wer sich hierfür interessiert, der sollte unbedingt zu „The Economic Integration of Europe“ greifen. Pomfret fügt unterschiedliche Facetten und Entwicklungsstränge in den wechselhaften Jahrzehnten, die von Integrationseuphorie im Osten Europas zu Beginn der 2000er-Jahre und von schweren Krisen wie der Weltfinanz- und Eurokrise seit 2007 oder dem Brexit geprägt waren, zu einem lesenswerten Gesamtbild zusammen. Das Buch eignet sich nicht nur für Studierende als Einstieg ins Thema, sondern ebenso für fachkundige Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen. Spezielle Aspekte, Entwicklungen und Politiken werden leicht verständlich in die Gesamtentwicklung einer seit den 1990er-Jahren immer komplexer werdenden Union, die sich immer mehr Politikfeldern und wirtschaftlichen Ordnungsbereichen annahm, eingeordnet. Das Buch besticht durch ein angemessenes Abstraktionsniveau, ohne die Entwicklungen zu sehr zu vereinfachen. Dies ist umso bemerkenswerter, als der Gesamttext gerade einmal 190 Seiten umfasst. Auffallend ist die angenehme Ausgeglichenheit der Darstellung, die einzelne Politikfelder weder zu stark hervorhebt noch vernachlässigt.

Man merkt dem Buch in vielerlei Hinsicht an, dass Pomfret sich – als australisch-britisch-kanadischer Kosmopolit – der Europäischen Integration „von außen“ nähert und nicht verhaftet ist in nationalen Präferenzen oder Perspektiven auf die Europäische (Wirtschafts-)Integration. Allerdings liegt darin auch eine Schwäche des Buches, greift der Autor doch ausschließlich auf angelsächsische Literatur zurück, die zahlreiche Arbeiten kontinentaleuropäischer Historiker unberücksichtigt lässt. Dass diese oftmals sehr quellendichten wie archivgestützten Arbeiten kaum konsultiert wurden, merkt man dem Buch an einigen Stellen leider an. Dies fällt insbesondere in den Kapiteln zwei und drei auf, die sich den von Pomfret ausgemachten ersten beiden Phasen der Integration bis zum Vertrag von Maastricht widmen. In der Darstellung der ersten Jahrzehnte europäischer Integration finden sich mitunter veraltete Narrative oder auch Blindstellen, die die Integrationsforschung eigentlich längst revidiert bzw. geschlossen hat. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die Grundlegung der europäischen Wettbewerbspolitik durch die Kartellverordnung von 1962 mit ihrer klaren Fixierung auf marktwirtschaftliche Ordnungen, die sich Anfang der 1960er-Jahre eher außerhalb der breiten öffentlichen Wahrnehmung vollzog und vielleicht eines der prägendsten Momente für das langfristige Denken europäischer Marktordnungen sein sollte, geht ebenso unter wie die Schwierigkeiten der Europäischen Gemeinschaften in den ersten drei Jahrzehnten ihrer Existenz, Politiken für Dienstleistungsmärkte oder europäische Netze zu formulieren und zu implementieren. Alles in allem hat Richard Pomfret aber ein äußerst lesenswertes Buch zur Europäischen (Wirtschafts-)Integration vorgelegt, dass Historiker wie Ökonomen gleichermaßen anzusprechen und zu inspirieren vermag.

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